Der Holzfäller

 

Der Holzfäller

Sein Zimmer, oder eher seine Kammer, die er den Sommer über bewohnte, war gerade so groß, dass ein Bett der Länge nach darin Platz fand. Die Dachschräge machte es unmöglich einen Schrank aufzustellen, und Hannes begnügte sich mit dem Nachttisch und dem kleinen Regal, die sich im verbleibenden Raum drängelten. Hinter der Tür war immerhin ein Waschbecken und darüber ein Spiegel und ein schmales Brett, auf dem er Zahnbürste und -pasta, Rasierzeug und einen Kamm unterbringen konnte. Der Kamm war mehr Zierde, ihm gefiel die dunkle Hornfarbe, denn Hannes besaß kaum Haare, die er hätte kämmen können.
Er war ein eher kleiner, aber drahtiger Mann unbestimmbaren Alters, der seine Bewegungen langsam und ruhig ausführte. Jeder hätte hinter seinem arglosen, geradezu langweiligen Gesicht, das keine Ecken und Kanten zeigte, einen Buchhalter vermutet. Doch die rötlichen, frischen Wangen störten diesen Eindruck, und wenn man Hannes‘ Oberarme sah, konnte man auf eine körperlich anstrengendere Tätigkeit als Zahlen in eine Rechenmaschine zu tippen, schließen. Hannes war Saisonarbeiter. Im Sommer verdiente er das Wenige, was er zum Leben brauchte, als Holzfäller, im Winter hievte er in einem Versandhaus große Pakete aus dem Lager auf Paletten und von den Paletten weiter in Lastwagen.
Der schönste Moment im Jahr war für Hannes gekommen, wenn er seine Sachen packen, sich eine Zugfahrkarte besorgen und Frau Michel Bescheid sagen konnte. Spätestens Ende April ertrug er die Großstadt um sich herum nicht mehr. Der Verkehr machte ihn nervös, die Menschen schienen ihm trotz der steigenden Temperaturen kalt, und Abendunterhaltungen wie einsame Flipperspiele oder gelegentlich ein Kinobesuch kamen ihm noch schaler vor als sonst. Er sehnte sich nach dem kraftvollen Krachen berstender Baumstämme, der schweigsamen Arbeit neben seinen Kollegen, dem schmerzhaften Ziehen in den Armen nach den ersten paar Tagen.
Während sich der Zug den Wäldern näherte, dachte er vorfreudig an den alten Michel, der ihn mit seinem Schulbus am Bahnhof erwartete. Sein Wirt war ein frischer und munterer Pensionär, den der Ruhestand aufs Land versetzt hatte. Zur Aufbesserung der Rente führten die Michels zum einen eine zugegebenermaßen sehr kleine Pension und zum anderen fuhr Edgar Michel den Schulbus. Hannes legte die Ankunftszeit des Zuges immer so, dass er gegen Mittag ankam und inmitten all der vom langen Stillsitzen erlösten, raufboldig aufgelegten Kinder zur Pension mitfahren konnte.
Das vierte Jahr wohnte Hannes als Sommer-Dauergast in dem kleinen Kämmerchen und ihm war, als besuche er seine Familie. Hier akzeptierte man seine zurückhaltende, menschenscheue Art und keiner sah ihn schief an, wenn er den ganzen Abend mit den Michels in der guten Stube, wie sie es nannten, saß und kaum ein Wort sprach.
„Na, Hannes, bist‘ froh wieder hier zu sein?“ begrüßte ihn der alte Michel in seinem kehligen Dialekt und klopfte ihm wohlwollend auf die Schulter. Hannes lächelte ein wenig verlegen und stieg mit seinem Pappkoffer und dem neumodischen, aber sehr praktischen, neonfarbenem Rucksack in den bereitstehenden Bus. Die Kinder grölten zur Begrüßung und Edgar Michel gefiel sich in der Rolle des autoritären Ordnungstifters sehr.
„Dein Zimmer ist schon fertig. Wenn du dich frisch gemacht hast“, lachte ihm Hedwig Michel schon von weitem entgegen, „dann kommst auf eine Suppe in die Küche hinunter, einverstanden?“ Wieder lächelte Hannes und nickte im Händeschütteln der kleinen, runzeligen Frau mit den sehr wachen, wasserblauen Augen zu.
Den Nachmittag hatte er dann endlich für sich. Sein Zimmer musste eingerichtet werden, und obwohl die Kammer so klein war, benötigte er dafür Stunden. Zunächst breitete er den Inhalt seines Rucksacks auf dem Bett aus. 45 kleine und wenig größere Zeitungspapierpäckchen, alle von einem roten Gummiband zusammengehalten, lagen dort und während er vorsichtig Päckchen für Päckchen auspackte, leuchteten seine Wangen so rot, wie die eines Kindes am Weihnachtsabend.
Hannes liebte den Kitsch. Nicht jeden natürlich, keine röhrenden Hirsche und keine Engelchen mit viel zu kurzen Flügeln. Was Hannes entzückte waren kleine Dosen, Büchsen, Schächtelchen und überhaupt Behältnisse jeglicher Art. Er besaß eine kleine, herzförmige Porzellandosen mit einem feinen, blauen Muster, eine kreisrunde Dose, die silbern glänzte und deren perlmuttener Deckel mit einer hübschen Zeichnung von Rehen und Bäumen verziert war. Stolz war er auf den hölzernen Kopf eines Indianers mit einer prächtigen Nase und abnehmbaren Skalp. Aus ein wenig sentimentalen Gründen bewahrte er auch den einfallslosen Porzellankopf eines schnauzbärtigen Mannes auf, unter dessen Hut man etwas verstauen konnte und den er von einem ältlichen Fräulein, das hinkte, geschenkt bekommen hatte. Sehr hübsch dagegen fand er die Banane aus Pappmaché, grell gelb, die der Länge nach in zwei Hälften geteilt war. Gleich im ersten Jahr hatte ihm Hedwig Michel, nachdem sie bewundernd seine Sammlung betrachtet hatte, eine verknotete Baumwurzel geschenkt, in die ein geschickter Handwerker ganz verborgen eine kleine Schublade eingearbeitet hatte. Neben die rotblumige Babuschka drapierte Hannes nun eine ziselierte Jugendstildose, das teuerste Stück seiner Sammlung, wegen der sich der Menschenscheue extra auf eine große, vornehme Auktion gewagt hatte und die einen halben Monatslohn verschlungen hatte. Wo sollte das neues Stück hin?, überlegte er. Er schob die anmutige Ballerina mit den grazil gestreckten Armen und dem weiten Tütü, die man in der Taille zerlegen konnte, ein wenig nach rechts. Der Plastik-Scotch-Terrier mit dem beweglichen Kopf wurde ein wenig nach hinten geschoben und in die entstehende Lücke passte nun das neue Behältnis. Stolz polierte er es noch einmal mit seinem Taschentuch nach. Es war eine große, kupferglänzende und bis ins kleinste Detail naturgetreu nachgebildete Fliege. Ihre Flügel klappte man zur Mitte hin hoch und dann rollten die Stielaugen um ihre eigene Achse.
Liebevoll betrachtete er die aus Elfenbein geschnitzte Tuba, die einen winzigen Hohlraum in ihrem Trichter besaß. Neben sie stellte er das erste Sammelobjekt, das er besessen hatte. Seine Mutter hatte ihm diese kugelrunde, schmeichelweiche Holzdose geschenkt, in der sie seinen ersten Milchzahn aufbewahrt hatte. Er ließ die Kugel, bei der niemand auf den ersten Blick erkennen konnte, dass sie überhaupt zu öffnen war, in seiner Hand kullern. Ein wenig gewagt fand er es zwar, aber er gab der Holzkugel dennoch diesen sehr modernen Acrylwürfel zum Nachbarn. In dessen durchsichtigen Seiten brach sich das Licht der späten Nachmittagssonne. Zufrieden betrachtet Hannes das nun so belebte Regal und ihm fehlte kein Zentimeter mehr Raum, um sich wohl zu fühlen. Dann ging er in den Wald.

„Viele Sommergäste dieses Jahr, Frau Michel?“ fragte Hannes leise, und er konnte sich nicht daran gewöhnen, die Michels zu duzen.
„Nicht so viele“, schüttelte Hedwig Michel den Kopf, während sie Hannes das Frühstück hinstellte. Die Sonne ging zwischen den Bäumen auf und in der kalten Morgenluft sah man den letzten Nachtfrost auf Dächern. Hannes atmete tief ein als er in Richtung des Treffpunktes der Waldarbeiter loslief. Er fühlte sich frisch und stark und ausgeschlafen, trotz der frühen Morgenstunde. Nicht viele, überlegte er ein wenig bedauernd, aber er wusste auch, dass manche Gäste ohne Voranmeldung bei den Michels auftauchten. Wird schon werden, machte er sich selber Mut und dachte nicht nur an die neuen Kollegen, mit denen er bis zum Ende des Sommers täglich auskommen musste. Jedes Jahr war wenigstens einer dabei, der sich über die schweigsame, zurückhaltende Art von Hannes lustig machte. Und wenn sie, meist montags, mit ihren Frauengeschichten kamen, fühlte sich Hannes besonders unwohl. Samstags trank er gewöhnlich so viel, dass er sonntags ausschlafen konnte und der Tag dann schneller vorbeiging. In die nächstgrößere Stadt fuhr er äußerst selten.
Wie immer vergingen die ersten zwei Wochen wie im Fluge. Nicht die Abwechslung war es, die Hannes wohl tat, sondern die Gleichförmigkeit der Tage. Die Sicherheit, mit der die Dinge eintrafen. Bevor er zu Bett ging, öffnete er seine Döschen, deren Inhalt er liebevoll betrachtete. Dann schweifte sein Blick meist zum Fenster, hinter dem der Nachthimmel lauerte.
Die langersehnten Gäste, die kurz vor Pfingsten eintrafen, waren ein älteres Ehepaar mit ihrer etwa 15jährigen Tochter, deren blondes Haar aus dem Autofenster flatterte. Hannes beobachtete sie von seinem Fenster aus, ein wenig wehmütig, aber er wusste, seine Zeit würde noch kommen.
Das Mädchen trug den ersten Sommer Kleider mit Ausschnitten und Hosen, so knapp, dass sie kaum ihren Po verhüllten. Morgens, während ihre Eltern noch schliefen, sah Hannes sie oft in einem dünnen Hemdchen auf dem Weg vor sich durch den Wald joggen. Sie bemühte sich, ihn nicht zu beachten und doch von ihm beachtet zu werden. Nachts hörte er ihr Bettzeug rascheln.
Die erste Chance ergab sich zwei Tage nachdem die Blonde mit ihren Eltern wieder abgereist war. Das Pärchen war noch recht jung, kaum älter als ihre Zimmervorgängerin, und sehr verliebt. Sie hatte wunderbare rote Locken, und er bemühte sich ziemlich vergebens um einen Vollbart. Sie waren sehr höflich, fast scheu, gegenüber Hannes und den Michels. Am ersten Tag machten sie gleich eine lange Wanderung und fielen abends erschöpft in ihre Betten und sofort in einen tiefen Schlaf. Hannes war geduldig. Er war es von Natur aus; er hatte als Kind nie, wie alle seine Mitschüler, die Tage bis zu seinem Geburtstag oder bis zu den Ferien gezählt.
Am dritten Abend erkannte er die typischen Geräusche. Schon beim Abendessen hatte es Hannes vom Gesicht der jungen Frau ablesen können. Wie ihre Augen glänzten, wie ihre Hand zärtlich im Nacken des Geliebten liegenblieb, wie sie sich verhalten albern gegenseitig die besten Bissen in den Mund schoben.
Zuerst hörte er kichern, rascheln, gelegentlich noch ein lauteres Wort, dann wurde es längere Zeit still. Hannes richtete sich in seinem Bett auf. Ein wenig Nervosität überkam ihn jetzt doch. Es war schließlich das erste Mal in diesem Jahr. Fahrig tastete er nach dem Etui in der Nachttischschublade. Jetzt begann sich das Bett im Nebenzimmer zu rühren. Es knarrte in einem gleichmäßigen, aber schneller werdenden Rhythmus. Hannes ging langsam auf seine Zimmertür zu. Ein Schnaufen war nun zu vernehmen. Das Bett schaukelte heftiger. Hannes öffnete seine Tür. Ein kleiner Kiekser drang zu ihm, wild wurde Luft ausgestoßen, das Bett ächzte noch einmal ganz kurz, und dann sah er durch seine spaltbreit geöffnete Tür ein Licht angehen im Nebenzimmer. Er hörte unverständliche, sanfte Worte, noch ein letztes, lautes Lächeln und das Licht ging wieder aus. Jemand murmelte, und das Bettzeug raschelte. Hannes machte den ersten Schritt in die Diele. Er wusste, an welchen Stellen es knarrte, er wusste, wann die gleichmäßigen Atemzüge in tiefen Schlaf übergegangen waren und so lange wartete er geduldig, den Kopf an die fremde Tür gelehnt. Er öffnete nun leise sein Etui und entnahm ihm den kleinen, glänzenden Gegenstand, der fast vollständig in seiner rauen, hornhautbewehrten Hand verschwand. Das Etui steckte er in die Tasche seines Schlafanzugs.
Schlösser und Schlüssel gab es in diesem Hause nicht und Hannes war froh, Edgar Michel beim Ölen der Scharniere in jedem der Zimmer geholfen zu haben. Leise glitt die Tür zurück und Hannes umfing die warme, süßliche Luft der Liebenden. Sie lagen nackt und eng aneinander gekuschelt, kaum bedeckt von einem dünnen Laken. Der erste Schritt war immer der Schwierigste und fiel diesmal sehr kurz aus. Hannes reckte den Oberkörper weit vor, seine Hand immer noch fest geschlossen. Der schöne Körper der Schläferin zuckte einmal und sie drehte sich um, ein träumerisches Nuscheln von sich gebend. Hannes hielt die Luft an. Er tat einen weiteren Schritt und bemerkte aus den Augenwinkeln die offen stehende Schranktür – für alle Fälle. Ihm wurde heiß. Hatte er lange genug gewartet?
or zwei Jahren war es gewesen, als eine der Frauen sich erschreckt aufgesetzt hatte, er stand mitten im Zimmer und plötzlich hatte sie die Augen weit aufgerissen. Er hatte einfach gehofft, dass sie noch in einem Traum wäre und sich schnell hinter den Vorhang in der rechten Zimmerecke verzogen. Kaum hatte das Rascheln der Gardine aufgehört, war das Licht angegangen, und die verstörte Stimme der Frau hatte erklärt, sie wäre ganz sicher gewesen, dass da einer gestanden wäre, aber ihr Mann hatte sie in die Arme genommen und ihr erklärt, Stühle mit Kleiderbergen darauf, eingerahmt von dunklen Fensterrahmen, würden oft die seltsamsten Gestalten annehmen. Er hatte sie tröstend gestreichelt, das Licht gelöscht und Hannes hatte eineinhalb Stunden angstvoll gewartet, bis er sich getraute, das Zimmer unverrichteter Dinge wieder zu verlassen. Seitdem hatte er sich angewöhnt, ein wenig länger zu warten, bis er die fremde Zimmertür öffnete.
Ein schmaler Lichtstreif des Mondes fiel nun in den Raum und Hannes atmete ganz leise und tat den nächsten Schritt. Keine Reaktion. Er entspannte sich ein wenig und gewahrte nun den leichten Schmerz in der Hand, den ihm die Spitze seines Werkzeugs zugefügt hatte. Er lächelte fast und nahm das Instrument nun zwischen die Finger. Die junge Frau lag leider auf der von der Tür entfernteren Seite des Bettes. Hannes konzentrierte sich jetzt mehr auf den Fußboden. Er hatte sich das angewöhnt, seit er beinahe einmal von einem Pantoffel auf dem schlüpfrigen Parkett zum Ausrutschen gebracht worden war. Diese beiden hier waren jedoch wirklich ordentlich – zumindest fast, dachte Hannes und kickte lautlos ein benutztes Papiertaschentuch unter das Bett. Das waren die kleinen Freiheiten, die er sich gelegentlich gestattete, aber sofort besann er sich auf sein Vorhaben. Endlich stand er an der Längsseite des Bettes und betrachtete die Schlafende. Sie lag ideal. Die Beine hatte sie ein wenig seitlich angezogen, ab der Hüfte aber lag sie auf dem Rücken, die Arme leicht unter der Brust verschränkt. Die üppigen, roten Locken lagen rechts neben ihrem Gesicht ausgebreitet. Liebevoll betrachtete Hannes die Rundheit ihrer Brüste und war froh, dass ihr Freund ihr den Rücken zuwandte. Langsam bückte sich Hannes. Er wusste, dass es ab jetzt auf Geschwindigkeit ankam. Würde sie sich im falschen Moment umdrehen, wäre alles verloren. Seine rechte Hand mit dem scharfen Gerät näherte sich zielstrebig ihrem Kopf. Wie weiß ihr Hals war. Mit dem offenen Mund sah sie aus wie ein kleines Kind. Mit der linken Hand suchte Hannes jetzt vorsichtig nach der richtigen Stelle. Sie schlief tief. Während er einatmete führte er seine schnelle, geübte Bewegung aus und richtete sich dann zufrieden wieder auf. Sie hatte nicht einmal gezuckt. Den Rückweg vollführte er immer sehr viel schneller, wenn auch genauso gewissenhaft.
Zurück in seinem Zimmer spürte er nun doch, wie sein Herz wild pochte und seine bisher so ruhigen Finger zitterten. Er zündete eine Kerze an und betrachtete zufrieden das Ergebnis seiner Arbeit. Ob es diesmal jemand bemerken würde? Aber bisher war noch nie ein Verdacht auf ihn gefallen. Hannes kniete sich neben sein Regal. Er klappte die Flügel der Fliege nach oben und die Augen begannen zu rotieren. Sacht legte er die rote Haarlocke in das Innere des Fliegenkörpers.

copyright: Bettina Brömme
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